Warum die Weihnachtszeit die Hölle auf Erden ist

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Während die einen in ein glitzerndes Paralleluniversum abtauchen, ist Weihnachten für mich ein kleiner Weltuntergang. Deko-Wahnsinn, Fress-Stress, Harmonie-Folter statt ruhiger, besinnlicher Tage. Thank God it's Christmas? Danke, Freddie, aber auf die Vorweihnachtszeit kann ich gut verzichten.

Das härteste für mich ist der radikale Wechsel zwischen zenhafter Besinnlichkeit und kriegsähnlichen Zuständen: Plätzchenbacken in Peace, Ellenbogen-Einsatz in den Geschäften. An Weihnachten ist man bitte liebevoll und harmonisch, die äußeren Umstände aber lassen mich Morde fantasieren. Wie soll ich denn ein guter Festtagschrist sein, wenn ich ständig meine Bahn verpasse, weil ich mich erst über den Weihnachtsmarkt schlagen muss? Aber zugegeben, noch schlimmer als außen rumzulaufen, ist mittendrin zu stehen.

Da stehe ich dann zwischen 23 Fritösen, die mich in einen Fettdampf nebeln, den ich nur los werde, wenn ich in Chlor bade.

Der Dezember ist der letzte Monat im Jahr, da wollen sich alle noch einmal sehen. Dass man sich das letzte Mal im März getroffen und die neun Monate ohne Kontakt sehr gut verkraftet hat, ist egal. Im Dezember ist man nostalgisch und krass liebevoll unterwegs, also geht es in Horden auf den Weihnachtsmarkt, um beieinander zu sein. Da stehe ich dann, halb erfroren, zwischen dem SOS-Kinderdorf-Infostand und 23 Fritösen, die mich in einen Fettdampf nebeln, den ich nur wieder los werde, wenn ich mir den Schädel rasiere und in Chlor bade. Der Glühwein kostet 12 Euro und gebrannte Mandeln könnten als neue Geldanlage eingesetzt werden.

Zu den sieben Weihnachtsmarktverabredungen werden dann noch 13 neue WhatsApp-Gruppen gegründet: „Glühwein im Stadtgarten“, „Weihnachtssause Unimädels“, „Weihnachtsgeschenk Mama+Papa“, „Skifoan 2018?!“, „Geburtstagssause auf dem Weihnachtsmarkt“, „Gemütliches Plätzchenbacken“, „Was schenken wir Oma?“, „X-masbash am Samstag“, „WG-Plätzchenbacken“, „Saufen an Heiligabend“, „Saufen am 23.“, „Saufen zwischen den Jahren“, „Farewell 2018 Party“. Ich bin an jedem 25. Dezember immer wieder erstaunt, was für ein logistisches Verabredungs-Meisterwerk ich vollbracht habe.

Die 52-jährige beleidigte Leberwurst namens Papa darf sich einen Nachtisch wünschen, weil sie so tapfer das Raclette erträgt.

Die Alternative zu den vielen Verabredungen zum Jahresende wäre ein gemütlicher Abend vor dem Fernseher. Aber aufgepasst, dort folgt Spendengala auf Spendengala. Unsere Tränendrüsen werden malträtiert: armes Afrika, armes Jemen und schreckliches ALS. „Kinder brauchen IHRE Hilfe!“ Ja, aber auch in den anderen elf Monaten. Im Januar ist uns dann wieder alles egal.

Während in der Welt die Bomben fliegen, treten in einigen Famillien bürgerkriegsähnliche Zustände ein. Das Streitthema: Was gibt es an Weihnachten zu essen? Es stehen 2 gegen 4 bei der Frage, ob es in diesem Jahr Raclette geben wird. ABER DAS GAB ES DOCH SCHON IM LETZTEN JAHR!!!!!!

Auf dem Schlachtfeld, der Familien-WhatsApp-Gruppe, kann meist ein friedlicher Kompromiss gefunden werden. Die 52-jährige beleidigte Leberwurst namens Papa darf sich an Weihnachten einen Nachtisch wünschen, weil sie so tapfer das Raclette erträgt.

Niemand kommt „der alten Zeiten wegen“, die wollen alle nur wissen, ob du fett und arbeitslos bist.

Dabei sollten sich eigentlich die Kinder, die an Weihnachten nach Hause kommen, den Nachtisch wünschen dürfen. Denn driving home for Christmas is a heikle Sache. Nichts ist schrecklicher, als den Nachbarn am Abend des 22., wenn man seinen Rollkoffer die elterliche Einfahrt hoch zieht, zu treffen: „Ach wie schön, die Tochter kommt an Weihnachten nach Hause. Wenn man alleinstehend ist, ist das ja auch schön bei den Eltern zu sein! Was macht denn der Job in der Großstadt?“ Eine Steigerung dieser Unterhaltung ist nur das Treffen in der Dorfkneipe an Heiligabend. Niemand kommt „der alten Zeiten wegen“, die wollen alle nur wissen, ob du fett und arbeitslos bist.

Weihnachten bedeutet ertragen: Opas Vortrag über die Homoehe, und die Tante, die um Verständnis der AfD-Wähler bittet. Einzeln hat man sie ja schrecklich lieb, alle auf einem Haufen, gleicht das Familienfest dem Gazastreifen – zu viele Meinungen auf zu engem Raum. Thank God it's Christmas? God it's crazy – and all I want for Christmas is gesunder Menschenverstand and Ruhe!

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