Wie mein Baby ging, bevor es kam

© Yuris Alhumaydy / Unsplash

20 März 2018. Ich wache auf, nehme seine Wärme wahr. Er hält mich fest im Arm. Poar! Mein Herz schäumt fast über. Denn so gut wie jetzt gerade fühlt es sich nicht immer an. Ich greife nach seiner Hand, unsere Finger verschlingen sich ineinander. Geborgenheit, Sicherheit, Fallenlassen, ich vertraue. Näher geht’s nicht. Mein wildes Rodeoherz lässt endlich das übliche Galoppieren bleiben. Ganz ruhig steht es da, wie ein Fels in der Brandung. Empfängt, empfängt, empfängt und freut sich. Bobomm, bobomm, bobomm. Wow. „Das ist sie wohl“, denke ich, „die Antwort auf die Frage, die ich als kleines Mädchen gestellt habe: „Omi, was heißt das eigentlich: 'glücklich sein'?“.

„Guten Morgen, meine Hübsche.“ „Guten Morgen Hase.“ Frank lupft mein T-Shirt und küsst meinen Bauch. Den Bauch mit den Kugelschreiberresten von gestern: „Happy Birthday Hasenpapa“ stand da. Er küsst die neue, kleine Plauze. Sagt: „Guten Morgen Häsinchen.“ Wir frühstücken fürstlich in unserem Lieblingscafé. Die Sonne wärmt uns durch die große Scheibe. Jetzt schäumt das Herz wirklich über. Ich sitze hier mit dem Mann, den ich liebe, und gleich werden wir unser Baby anschauen. Unser Baby!

Ich begreife das kaum. Ich. Vor eineinhalb Jahren, da habe ich mitten auf einem Spielplatz plötzlich angefangen zu heulen. Wegen all dieser süßen Kinder. Viele Mamis hatten schon das zweite. Und waren dabei viel jünger als ich. Geheult und geheult habe ich. Wegen der Überzeugung, dass ich es niemals schaffen werde, mich auf meinen Mann einzulassen. Und folglich auch nie Kinder haben werde. Kristina weint mit, während ihr kleiner Julian uns vom Trampolin aus zuwinkt. Sie versteht mich. Fühlt mich. Sie ist eine der wenigen, die meine schwere Vergangenheit miterlebt haben, statt nur aus Erzählungen von ihr zu wissen. Weinend sitzen wir da, ihr Arm um meiner Schulter. Unsere Tränen tropfen auf das Riesentrampolin. Um uns herum Heerscharen spielender, lachender Kinder. Ein Weltuntergangsmoment. Und zwei Wochen später kam Frank.

Die nächsten fünf Sekunden werden die längsten meines Lebens.

Im Wartezimmer meiner Frauenärztin sitzt Jessie, selbst in der 21. Woche. Sie weiß noch gar nichts von meiner Schwangerschaft. Erst recht nicht, wie oft sie in letzter Zeit eine Hauptrolle in meinen Tagträumereien gespielt hat. Sie und ihr Freund Mio, unsere beiden Freunde Jan und Eva, Frank und ich – und unsere drei Mädchen. Die schönsten Bilder in meinem Kopf. Die allerschönsten.

Im Behandlungszimmer herrscht gelöste Stimmung. Frau Doktor muss lachen, als sie den Schwangerschaftshormonwert sieht, den Ärzte während meiner Bangkokreise ermitteltet haben: „26.000 in der sechsten Woche? Sie sind so was von schwanger!“ Ich erzähle ihr von meinem crazy Körper: von den Brüsten aufgepumpt wie viel zu pralle Wasserbälle. Von dem Bauch, den Schwiegermutter in Spe gestern noch gestreichelt und sich gefreut hat: „Das ist so süß: Man sieht das schon richtig!“  In der zehnten Woche!? Frau Doktor nickt wissend und lächelt: „Klar, so was gibt’s: quasi Superschwangere.“

Sie startet den Ultraschall. „Wow, der Erdnussflip ist ja riesig geworden“, flöte ich. Keine Reaktion. Stille. Frau Doktor sagt nichts, während sie den Stab in mir bewegt und auf den Monitor starrt. Na gut, sie konzentriert sich halt, denke ich kurz. Nur ganz kurz, weil ich merke: Irgendwas stimmt nicht. Die nächsten fünf Sekunden werden die längsten meines Lebens. Sie schüttelt den Kopf, verzieht das Gesicht. „Es tut mir leid.“  „Was??? Was ist los?!“ „Ich finde keine Herztöne“.

Keine Schmerzen, kein Blut, alles scheint in bester Ordnung, während das Herz des Würmchens einfach aufhört zu schlagen.

Bobomm, bobomm, bobomm. Mein Rodeoherz poltert und springt mir fast aus dem Hals. Ich würde es ihr am liebsten vor die Füße spucken. Der dicke Kloß explodiert. Ich schnappe nach Luft, bevor ich bitterlich weine. Höre Frank hinter mir schluchzen. Wie soll man das begreifen? Frau Doktor wischt sich hastig ein Tränchen weg. Ich soll mich anziehen. Wir sitzen uns gegenüber, ich zusammengekauert, sie auf die Unterarme gestützt und nach vorne gelehnt. „Frau Schulz, das hat absolut nichts mit ihrer Reise zu tun, machen sie sich bitte keine Vorwürfe. Es gibt Frauen die in den ersten drei Monaten nur liegen und dann geht’s trotzdem schief, das passiert einfach.“ Sie faselt was von Chromosomenteilung, es kommt nichts bei mir an. Erst als das schlimme Wort fällt, bin ich wieder da.

Ausschabung. Nein!!! „Aber das geht doch auch anders, da gibt es doch auch Tabletten die zum Abgang führen, oder nicht?“ „Dafür ist es bei ihnen zu spät, der Embryo ist schon zu groß“. Sie füllt die Überweisung aus. Diagnose Missed Abortion. Verhaltene Fehlgeburt. Ja, „verhalten“ trifft's: Keine Schmerzen, kein Blut, alles scheint in bester Ordnung, während das Herz des Würmchens einfach aufhört zu schlagen. Klar weiß ich, wie riskant die ersten Wochen sind. Dass man sich am besten nicht zu früh freut. Aber ich war mir sicher, dass dieses Kind zur Welt kommt. Ich war mir einfach sicher. Unter anderem, weil es mit mir nach und in Südostasien geflogen ist. Dort eine Magendarmseuche aus der Hölle mit mir gewuppt hat. Und nicht viele Entstehungsmöglichkeiten hatte. Nein, lange versucht haben wir es nicht. Sondern es unüberlegt kopflos, aber aus tiefstem Herzen, ein paar Mal drauf ankommen lassen. Und dann war Häsinchen sofort da. Sodass ich eben sicher war: „Die will wirklich unbedingt zu uns.“

Das Wissen, dass das so häufig vorkommt, schmälert meinen Schmerz nicht.

Doch Mister Owl sollte recht behalten. Für umgerechnet zwei Euro hat er mir in Myanmar meine Zukunft vorhergesagt. Unter anderem, dass ich eine Fehlgeburt haben werde, wenn ich vor 35 schwanger werde. Während er das sagte, war ich schon schwanger, wusste es aber noch nicht.

Ich bin 34 und hatte eine Fehlgeburt. Das passiert jeder fünften Frau in den ersten zwölf Wochen. Krasse Zahl. Und na klar: Es ist gut zu wissen, dass ein Abgang so häufig vorkommt, dass es vielen so geht. Aber durch dieses Wissen fühle ich mich ja nicht anders. Das Wissen schmälert meinen Schmerz nicht.

Fast drei Monate sind seitdem vergangen. Drei Monate, die die Wunde natürlich schon gut haben heilen lassen. Aber die Narbe bleibt. Manchmal gönne ich mir die Ruhe, sie genauer anzusehen. Meistens überschminke ich sie aber mit Ablenkung. Dabei weiß ich ja, dass sie mein Innerstes auch angepinselt durchwirkt.

Ich hatte das größtmögliche, mit nichts zu vergleichende Geschenk in mir – und musste es wieder hergeben.

Ja, eine Fehlgeburt kommt ähnlich häufig vor wie ein Rückenleiden oder eine depressive Verstimmung. Passiert halt. Doch was da passiert, ist unbeschreiblich. Wenn du erfährst, dass du schwanger bist, ändert sich alles. Einfach alles. Von jetzt auf gleich. Das komplette Denken verändert sich, weil du weißt, dass dein ganzes Leben sich verändert. Für immer. Es gibt kaum noch andere Themen, alle Gedanken kreisen um das Kind. Seinen Namen, seine Erziehung, seine Patentante, das erste Weihnachtsfest. Und es ist ja nicht nur das Nachdenken. Aufhören zu rauchen, kein Alkohol mehr. Ja, ich habe mich sogar schon vorsichtiger bewegt, mich aufgeregt, wenn ich mal leicht gestolpert bin, habe mir oft die Hand auf den Bauch gelegt und mit Häsinchen gequatscht.

Ich hatte das größtmögliche, mit nichts zu vergleichende Geschenk in mir. Und musste es wieder hergeben. Dieses „Ätsch bätsch, doch nicht!“, während du ahnungslos auf dem Spreizstuhl liegst … das sind Fäuste in die Fresse. Zwei Mal „und plötzlich ist alles anders“ in so kurzer Zeit. Das war zu viel. Ja, es waren nur drei Wochen, in denen ich wusste, dass da etwas in mir heranwächst, das mein ganzes Leben verändern würde. Aber in drei Wochen kann man schon seeeehr viel nachdenken und sich in Tagträumereien verlieren, sich die neue Zukunft ganz bunt und realistisch ausmalen. Wie muss sich das erst anfühlen, wenn es viel später passiert, wenn die Schwangerschaft schon weiter vorangeschritten ist? Es war so schon schlimm genug. Warum schreibe ich, dass es schlimm „war“? Es ist schlimm. Wie schlimm, das verdränge ich wohl ein Stück weit. Will es gar nicht wahrhaben. Gedanken wie: „Das passiert ja so oft, kein Grund sich hängenzulassen, keine Rechtfertigung für eine Depression, es waren ja nur zehn Wochen!“, rauschen durch meinen Kopf. Zusammenreißen!

Vor allem der Kopf ist davon ganz begeistert. Das Herz weniger.

Was mir dabei hilft, ist mir und anderen gebetsmühlenartig zu sagen: „Es kommt alles so, wie es kommen soll. Hat schon alles seinen Sinn.“ Tatsächlich waren die Rahmenbedingungen nicht gerade ideal und ich kann jetzt, statt ein Baby in mir herumzutragen, an mir, meiner psychischen Gesundheit, meiner Beziehung, meiner Karriere und meinem Kontostand arbeiten. Ein besseres Fundament schaffen. Das fühlt sich vernünftig und richtig an. Vor allem der Kopf ist davon ganz begeistert. Das Herz weniger. In der Lehre Buddhas heißt es, dass Dinge sich unter entsprechenden Voraussetzungen manifestieren. Liegen diese Voraussetzungen nicht mehr vor, endet das Dasein der Dinge. Dann beschließt ein Kind fortzugehen, um vorteilhaftere Voraussetzungen abzuwarten.

Okay, ich werde auch weiterhin versuchen, mir das immer wieder einzubläuen. Und das Leben geht weiter. Im Moment habe ich in meinem Freundeskreis sieben Schwangere und in den letzten drei Wochen sind vier Kinder zur Welt gekommen. Ich kann mich zum Glück von ganzem Herzen für jede einzelne Freundin freuen. Aber es tut natürlich auch weh.

Am 3.6. ist Juri geboren, mein Patenkind. Wir haben uns gestern kennengelernt. Bei meiner Ankunft liegt sie selig schlafend in ihrer Wiege. Ich betrachte sie ganz genau. Wahnsinn. Ich bin von Sekunde eins voller Liebe für dieses Wesen. Und plötzlich übermannt es mich, ein Schwall an Tränen reißt mich weg. Juris Papa Jan nimmt mich in den Arm, hält mich ganz fest. Ich schluchze an seiner Brust, weine so heftig, dass mein ganzer Körper bebt. Uff. Aber wenigstens kommt mal alles raus. Ich denke an Jans Nachricht vom 20.3.2018: „Und das kleine Licht geht dahin zurück, wo es herkam. Vielleicht hat es ja was vergessen.“ Ja, vielleicht. Seinen Sternenumhang.

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