Ist Spinning die neue Girl-Boss-Religion?

© Christin Otto

In ihrer Kolumne "Köln, was geht?" schreibt Tessniem über das, was ihr in ihrer Wahlheimat Köln begegnet, was sie bewegt, zum Lachen, aber vielleicht auch zum Weinen oder Nachdenken bringt. Hier am Rhein fühlt sich die gebürtige Pott-Deutsche angekommen, denn sie hat sich in die "Köllefornia Vibes" verliebt. Ihr habt Rückmeldungen, Fragen, Feedback oder Liebesbriefe für Tessniem? Dann schreibt ihr einfach!

Es ist dunkel. So dunkel, dass ich im Raum nicht viel erkennen kann. Mein Blick ist aber ohnehin nach vorne gerichtet, wo eine blonde Frau zwischen vier dicken, weißen Kerzen steht. Von oben scheint gedimmtes Licht in ihr Gesicht. Um mich herum: fast nur Frauen, alle ähnlich gekleidet – in trendy Gymshark- oder Lululemon-Sets.

Die blonde Frau vorne bittet um Ruhe, die Gespräche im Raum verstummen. "Ihr seid hier nur für euch selbst, für niemanden außer euch selbst und ganz sicher nicht für die 'Outside World'", ermahnt sie uns. Dann schallt ein lauter Bass durch den Raum – und ich weiß, dass das der Anfang von 45 harten Minuten im Mekka deutscher Girl Bosses ist: ich bin beim Spinning!

Sie packt mich dann doch: diese aufgeladene Stimmung im Raum. Sie ist seltsam und motivierend zugleich.

Wie ich hier gelandet bin? Eigentlich wollte ich neben meinem regulären Kickbox-Training einfach wieder ein bisschen an meiner Ausdauer arbeiten. Eine Kollegin gab mir den Tipp, es mit Spinning zu versuchen. Also bin ich ins neue Studio von Rocycle gegangen – und merke schnell, dass der Sport-Aspekt hier fast schon nebensächlich ist.

Während wir strampeln und schwitzen, rattert die Trainerin einen Wandtattoo-Spruch nach dem anderen runter. Bei unserem Endspurt fordert sie uns auf, alles Toxische loszulassen. Sie springt durch den Raum und ruft laut "You are enough", was von den anderen Kurs-Teilnehmer*innen mit energiegeladenen Schreien belohnt wird.

Auch wenn ich statt der Pep Talks eigentlich lieber Musik oder einen Podcast hören würde, packt sie mich dann doch: diese aufgeladene Stimmung im Raum. Sie ist seltsam und motivierend zugleich.

Spinning will nicht nur Sport sein. Nein, Spinning will Leben verändern. Und angeblich tut es das auch.

Meine nächsten Besuche bestätigen den ersten Eindruck. Spinning will nicht nur Sport sein. Nein, Spinning will Leben verändern. Und angeblich tut es das auch. Zumindest vermitteln das die Trainer*innen, die gegen Ende einer jeden Spinning Class einen Schwank aus der eigenen Biografie zum Besten geben. Da ist zum Beispiel der schwule Trainer, der von seinem Coming Out erzählt und davon, wie Spinning ihm geholfen hat, sich selbst zu akzeptieren.

Natürlich möchte ich niemandem die eigenen Erfahrungen absprechen. Doch hört man all den Gamechanger- und Aufstiegs-Geschichten so zu, könnte man fast den Eindruck gewinnen, Spinning könne alle Probleme lösen. Homophobie? Rassismus? Krieg? Nichts, wogegen es sich in 45 Minuten Spinning nicht anpaddeln lässt.

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Es wirkt beinahe so, als entstehe in den Spinning-Studios deutscher Großstädte neben den drei Weltreligionen gerade eine vierte – eine Art Cycling-Kult. Einer, der wie gemacht ist für gestresste Großstädter*innen. Weil er neben sportlichen Mindset-Lessons und einer Prise Esoterik auch noch den Vorteil bietet, dass er sich perfekt in den vollen Arbeitstag integriert. 45 Minuten "Cycling Lunch" – wie gemacht für den Energiekick in der Mittagspause. Da sind sogar die 15 Minuten fürs Duschen und den Weg zurück ins Start-up-Office noch drin. Und danach macht man wieder das, was man als Girl Boss eben so tut: hustlen, hustlen, hustlen.

Und so absurd das jetzt auch klingen mag, aber: I’m a fan. Trotz des Drumherums, das ich oft albern und überzogen finde, werdet ihr mich auch weiterhin beim Spinning treffen, wo ich in meiner Gymshark-Uniform im Gleichtakt mit den anderen Girl Bosses 45 Minuten lang schwitze – und danach den obligatorischen grünem Smoothie trinke.

GaLiGrü aus Köllefornia, eure Tessniem!

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