Albernes Klischee oder Rassismus auf der Bühne? Wie ich mich im neuen Musical „Himmel und Kölle” gefühlt habe

© Thomas Brill

Mein erstes Musical war ein schlimmes Missverständnis. Ich war damals sechs Jahre alt, saß zusammen mit meiner Mutter in der dritten Reihe irgendeines Theaters in Bielefeld und freute mich riesig auf eine Folge Sesamstraße. Doch als Ernie und Bert auf die Bühne kamen, fingen sie plötzlich an, schief zu singen (und hörten nicht mehr auf!) „Was soll das denn jetzt?!“, dachte ich und meine Mutter: „bu ne şimdi?!“ – was dasselbe ist, nur auf türkisch. Nach ein paar weiteren Takten wurden uns beiden schließlich zwei Dinge klar. Erstens: Das Sesamstraßen-Theaterstück war ein Sesamstraßen-Musical. Und zweitens: Ich mag keine Musicals. 

Mit „Himmel und Kölle“ bekommt Köln ein Musical, das wahnsinnig lustig, fantastisch inszeniert, toll erzählt und leider auch rassistisch ist. 

Als ich vor kurzem aber hörte, dass meine „Wahlheimat“ Köln ihr ganz eigenes Musical bekommen hat, habe ich mich nach knapp zwanzig Jahren doch nochmal aufgerafft und dem Genre eine zweite Chance gegeben. Und ich habe es nicht bereut. Obwohl auch dieses Musical mich nach einigen Takten völlig entgeistert fragen ließ: „Was soll das denn jetzt?!“ Denn mit „Himmel und Kölle“ bekommt Köln ein Musical, das wahnsinnig lustig, fantastisch inszeniert, toll erzählt und leider auch rassistisch ist.

Geschrieben haben das Stück Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob. Sie lassen den Priester Elmar aus dem Schwabenland nach Kölle kommen und an der Stadt verzweifeln. Der junge schwäbische Priester (der aber zum Glück reinstes Hochdeutsch singt und spricht) ist naiv, gutgläubig und fromm und damit das genaue Gegenteil vom lauten, sündhaften Köln. Kurz bevor er ganz an der Stadt zerbricht, trifft er auf Kathy, die am nächsten Morgen heiraten soll, aber herausfindet, dass sie von einem Seitensprung schwanger geworden ist. Auch wenn diese Beichte alleine den Priester schon an den Rand eines Burn-Outs bringt, entschließt er sich Kathy zu helfen und lernt durch sie Köln ganz anders kennen und lieben.

Jacobs und Netenjakob sind erfahrene Comedy-Autoren und das Musical ist wirklich witzig. Nicht nur, weil in so ziemlich jedem zweiten Satz ein gut geschriebener One-Liner mit lokaler Pointe steckt („Sie wollen kein Bier? Kein Problem, wir haben auch Peters-Kölsch“), sondern auch weil die Darsteller*innen gutes Comedy-Timing besitzen (was man nicht von vielen deutschen Darsteller*innen behaupten kann). Vor allem Markus Schneider, der die Hauptrolle des Pfarrers spielt, trifft seine Pointen perfekt. 

Trotzdem bekommen alle Figuren etwas Menschliches und sie dürfen sich während der Geschichte weiterentwickeln. Also, fast alle.

Wie es sich für eine Komödie gehört, sind alle Figuren nicht nur gut gespielt, sondern auch stark überzeichnet. Denn es sind allesamt Karikaturen. Der „Ossi-Taxifahrer“, der sächselt und dauernd von der DDR-Spricht, die „jecke kölsche Haushälterin“, die etwas zu überdreht aber herzlich ist und natürlich auch der schwäbische Pfarrer selbst, der so gutgläubig ist, dass man eigentlich eher grenzdebil sagen könnte. 

Trotzdem bekommen alle Figuren noch etwas Menschliches und sie dürfen sich während der Geschichte weiterentwickeln. Also, fast alle. Eine Ausnahme gibt es.

Als es im Stück hieß, dass Kathy und Elmar in die Shisha-Bar müssen, verwandelte sich der Cast in Karikaturen von „Türk*innen“. Mit Jogginghose und Kopftuch, dicker Goldketten und noch dickerem Akzent, der ihre primitive Sprache und ihr primitives Auftreten unterstreicht. Der Priester Elmar stolperte in die Kulisse der Shisha-Bar und fragte in seiner naiven Art einen der Türken direkt, ob er überhaupt Deutsch spreche. Dafür erntete er großes Gelächter im Saal. Die nächsten Assoziationen von Elmar waren dann natürlich der Koran und Allah und kurz darauf kam „orientalische Musik“ und alle Türk*innen tanzten mit Händen hinter dem Rücken und schwingenden Beinen und sangen: „So sind wir geboren! Unterwegs in allen Foren!“ 

Die Volksbühne bietet Platz für knapp 600 Menschen, von denen sich in dem Moment 599 vor Lachen krümmten. Ich wollte auch. Aber ich konnte nicht. Was ziemlich unfair ist, weil in der Szene ja nichts großartig anderes passierte, als in den anderen Szenen davor. Hier wurden ein paar völlig überzeichnete Figuren durch den Kakao gezogen. Direkt neben mir saßen Schwaben, die hatten bei den Witzen übers Schwabenland mitgelacht, warum konnte ich denn nicht bei den Witzen über Türk*innen lachen? Bei den Witzen über Ostwestfalen hatte ich es als Ostwestfale doch auch geschafft. Andererseits habe ich als Ostwestfale auch noch nie erlebt, dass ich mit den Worten „Scheiß Ostwestfale!“ aus dem Weg geschubst wurde. 

Jedes Mal, wenn ein Klischee benutzt wird, wird es auch bestätigt und somit bestärkt.

„Die Türk*innen“ sind in dem Stück die einzigen Nebencharaktere, die einen eigenen Song bekommen. Gleichzeitig tauchen sie im Gegensatz zu allen anderen Nebencharakteren aber nie wieder auf. Der Ossi-Taxifahrer, die kölsche Haushälterin, selbst der „Bösewicht“ des Stücks, darf seine liebenswerte Seite zeigen und wird mit einem Gefühl des „eigentlich ein feiner Mensch!“ vom Publikum entlassen. Der Song, der gesamte Auftritt der Türk*innen, bleibt trotz ein, zwei Pointen, die die Szene brechen sollen, im Endeffekt mit einem „ja, so sind se!“ einfach stehen. Und genau so klingt das kehlige Lachen links und rechts von mir in dem Moment. Wie ein lautes: „So sind se, die Kanaken!“ 

Klischees gibt es über jede Bevölkerungsgruppe und natürlich hat eine Komödie wie Himmel und Kölle das gute Recht, sich an diesen zu bedienen. Aber jedes Mal, wenn ein Klischee benutzt wird, wird es auch bestätigt und somit bestärkt. Dem Ostwestfalen in mir ist das egal, wenn ein Witz über Ostwestfäl*innen gemacht wird, weil es auf der Bühne stattfindet und auf der Bühne bleibt. Ich habe keine Angst davor, dass ein Vermieter im Publikum sitzt, der mir nachher eine Wohnung verwehrt, weil er mich nicht als Individuum sieht, sondern als das Klischee in seinem Kopf. Als das Klischee, das er auf der Bühne gesehen hat. Und egal, wie viele Witze über Köln fallen, ich kann nachher noch entspannt ins Brauhaus, ohne Angst davor zu haben, dass irgendwer mit gezogener Waffe eindringt und um sich schießt, weil er Kölner*innen hasst. In eine Shisha-Bar traue ich mich seit Hanau aber nicht mehr. 

Das ist der Unterschied zwischen einem lustigen Klischee und Rassismus. Nur eins von beidem bleibt auf der Bühne.

Das ist natürlich ein weiter Sprung und ich sage nicht „von sowas kommt sowas“, aber der Kontext, in dem diese Klischees bespielt werden, ist eben ein anderer. Im echten Leben gibt es keine schwäbischen Pfarrer die SO gutgläubig sind, das ist Übertreibung, ein Stilmittel, Comedy. Aber, dass mir von wildfremden Menschen als erste Assoziation Allah und Koran an den Kopf geworfen werden, obwohl ich von beidem keine Ahnung habe, das passiert mir jeden zweiten Tag. Das ist der Unterschied zwischen einem lustigen Klischee und Rassismus. Nur eins von beidem bleibt auf der Bühne. 

JA ABER ICH HAB DA GELACHT UND FAND DAS LUSTIG, BIN ICH JETZT EIN NAZI ODER WAS?! SIND ALLE AUS DEM STÜCK JETZT RASSIST*INNEN?! Nein, natürlich nicht! Ich war letzte Woche einmal im Fitnessstudio und das macht mich ja auch nicht zum Spitzensportler.

Wenn man sich als tatsächlicher Nazi ein Musical angucken kann, ohne dass die eigene Weltsicht sich an der Darstellung auf der Bühne reibt, sondern ganz im Gegenteil, auch noch bestätigt wird, dann läuft was falsch. 

Aber es ist wichtig, an der Stelle Rassismus zu benennen und dafür zu sensibilisieren. Denn wenn man sich als tatsächlicher Nazi ein Musical angucken kann, ohne dass die eigene Weltsicht sich an der Darstellung auf der Bühne reibt, sondern ganz im Gegenteil, auch noch bestätigt wird, dann läuft was falsch.

Am Ende des Stücks, im Finale, kommen alle Figuren zusammen und singen eine letzte Lobeshymne auf Köln, die die Moral der Geschichte zusammenfasst. Köln sei toll, denn: „Köln hat Fehler, so wie ich!“ Der Türke ist nicht mit auf der Bühne. Er gehört nicht zum „ich“ dazu, sondern ist wie der Baulärm und die engen Fahrradgassen, ein „Fehler“ Kölns, den es zu akzeptieren gilt.

Die Autoren haben in das Musical offensichtlich sehr viel Arbeit und Herzblut gesteckt. Es bietet eine Menge kreativer Ideen und zieht jede*n Kölner*in gekonnt in seinen Bann. Die Darsteller*innen spielen fantastisch und die Inszenierung ist verspielt und trotzdem präzise.

Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn die Autoren noch ein, zwei zusätzliche Stunden Zeit fänden, um mit wenigen handwerklichen Eingriffen die Entmenschlichung der „Türk*innen“ und damit die Reproduktion von Rassismus zu brechen (was sie mit Sicherheit können, das beweisen sie schließlich mit allen anderen Figuren). Es gibt genug Aspekte türkischen Lebens in Köln, außerhalb von „Shishabar-Gangster“, die am Ende genau so zum „ich“ gehören können, wie „der Ossi“ und die „kölsche Haushälterin“.

Dann könnte ich auch meine Mutter mit ins Musical nehmen. Und es wird höchste Zeit, dass sie nach dem Sesamstraßen-Desaster mal ein wirklich gutes Musical zu sehen bekommt!

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